Klang und Kontemplation
Christine Ockenfels

Herzensgebet

Über das Herzensgebet kann man viel nachlesen - in Büchern, im Internet, in konkreten Anleitungen zur methodischen Einübung. So verzichte ich hier auf entsprechende Inhalte.

Nach einem langen Weg mit dieser Weise zu beten, stelle ich für mich fest: Es ist ein Übungsweg, ein Hinweg zur Öffnung und Weitung des eigenen Herzraums, dem Zentrum der bedingungslosen Liebe. Um wahrzunehmen, dass es diesen Herzraum in uns gibt und welche zentrale Rolle er in unserem Leben spielt, können die methodischen Schritte des Herzensgebets eine Hilfe sein, eine Möglichkeit neben vielen anderen Möglichkeiten.

Erste Erfahrungen mit dieser Weise des Betens machte ich zunächst bei  kontemplativen Exerzitien nach Franz Jalics SJ in Haus Gries. Im Prozess der Ausbildung zur Anleitung Christlicher Kontemplation gab es eine Phase des intensiven Übens, in der ich über längere Zeit mit dem Namen "Jesus Christus" gelebt habe. Er begleitete mich über konkrete Gebetszeiten hinaus in meinem Alltag. Die anfänglichen Schwierigkeiten der Verbindung des Atems mit dem Namen lösten sich mit der Zeit auf. Wer sich von der Weise, mit dem Namen zu beten, angesprochen fühlt und damit leben will, kommt mit der Zeit dahin, diesen mehr zu hören als innerlich zu sprechen oder zu murmeln.

"Auf der ganzen Welt und durch alle Epochen steht das Herz für Liebe, Mitgefühl, Freude, Mut, Stärke und Weisheit. Warum eigentlich?" Diese Frage stellte sich der Herzchirurg Reinhard Friedl und fand überraschende und erhellende Antworten. Wer sich dafür interessiert: Sein Buch "Der Takt des Lebens - Warum das Herz unser wichtigstes Sinnesorgan ist" kann ich nur empfehlen.
Jetzt aber einige Ausführungen zum klassischen Herzensgebet, das mit dem Namen "Jesus Christus" betet. Diese spiegeln eher meinen persönlichen Erfahrungsweg wider und können eine Anregung sein, sich in Freiheit und mit Gelassenheit auf den eigenen Weg zu machen.

Ein Hinweg zur Kontemplation
Auch diese Weise zu beten ist für den, der sich anfänglich darin übt zunächst ein methodisches Hilfsmittel; nicht ausschließlich, denn der Übende wird schon auch eine Beziehung zu Christus haben, sonst würde er sich nicht darauf einlassen. Grundsätzlich gilt hier das Gleiche wie für alle methodischen Hilfen: Die Methode kann sich verselbstständigen und zum Selbstzweck werden, das Üben zu einem selbstzentrierten, leistungsorientierten Aktivismus und der fehlgeleiteten Suche nach schönen, erhebenden Gefühlen. (siehe auch:
Christliche Kontemplation)
Wer die kontemplative Ausrichtung auf Christus für sich entdeckt hat, tut gut, immer wieder die eigene Absicht zu prüfen. Finde ich mich nach der Gebetszeit frustriert, verärgert oder unzufrieden, dann war meine Suche fehlgeleitet, da ich etwas erreichen wollte. Das Einzige, was von der Intention her erreicht werden will, ist die Unabhängigkeit von den Ergebnissen. Letztlich können wir auch das nicht aus eigener Kraft erreichen.
Es braucht eine geduldige Einübung und immer neue Ausrichtung auf Christus. Im Herzensgebet geht es nicht darum, über Christus und unsere Beziehung zu ihm nachzudenken, sondern in Beziehung zu ihm, dem kosmischen Christus zu gehen. Im Lauschen auf den Klang des Namens wird die lebendige Beziehung zwischen dem Kontemplierenden und Christus genährt und vertieft. Die Aktivität des lautlosen Betens führt immer tiefer in die passive, empfangende Gebetshaltung. Das Herzensgebet kann so mehr und mehr den Weg zur kontemplativen Ausrichtung und Lebensweise bereiten, die durch das hörende Wahrnehmen der göttlichen Präsenz in Allem geprägt ist.
Mehr über den Zusammenhang im Hinblick auf die Übung der Anrufung des Namens und die Bedeutung des Atems kann hier nachgelesen werden.

Im Folgenden möchte ich das Herzensgebet im Licht des Evangeliums betrachten.

Mit dem Namen beten und leben
Im Johannesevangelium (1,41f.) wird der Name bereits bei der Berufung der ersten Jünger erwähnt. Andreas traf seinen Bruder Simon und sagte: „Wir haben den Messias gefunden. Messias heißt übersetzt: der Gesalbte (Christus). Er führte ihn zu Jesus. Jesus blickte ihn an und sagte: Du bist Simon, der Sohn des Johannes, du sollst Kephas heißen. Kephas bedeutet: Fels (Petrus).“ Die ersten Jünger waren von Anfang an tief berührt durch die Gegenwart Jesu. Sie folgten ihm und erlebten ihn als Person, die durch ihre unmittelbare und demütige Menschlichkeit Wärme und Licht in ihr Leben brachte. Er erfüllte ihre Herzen und wurde zur Mitte ihres Lebens. Dann kam das jähe Ende: Gefangennahme, Verurteilung, Kreuzweg und Tod Jesu stürzten die Jünger in eine bodenlose Trauer und Leere, aus der sie erst herausfinden, als sie dem Auferstandenen begegnen. Er haucht sie an und sie empfangen die Heilige Geistkraft. Zwar mussten sie endgültig von der menschlichen Gestalt Jesu Abschied nehmen, erleben aber, dass er trotzdem gegenwärtig blieb und noch intensiver da war als vorher. Der Geist Christi lebt in ihnen. Es ist der kosmische Christus. Das Feuer seines Geistes entzündet die Glut der Liebe in ihren Herzen. Jetzt, wo sie vom Geist der Liebe erfüllt sind, wird der Name für sie der Schlüssel zu dem, was heilsam ist. Vor dem Hohen Rat bekennt Petrus: Wenn wir heute wegen einer guten Tat an einem kranken Menschen darüber vernommen werden, durch wen er geheilt worden ist, so sollt ihr wissen: im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, den ihr gekreuzigt habt und den Gott von den Toten auferweckt hat.“ (Apostelgeschichte 4,8–10)

So bekam der Name Jesu Christi im Reden und Handeln seiner Jüngerinnen und Jünger eine wesentliche Bedeutung. In seinem Namen predigten sie und heilten die Kranken. Das, was Jesus versprochen hat, als er unter den Menschen lebte, gilt für alle Zukunft: „Durch die, die zum Glauben gekommen sind, werden folgende Zeichen geschehen: In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben; sie werden in neuen Sprachen reden; und die Kranken, denen sie die Hände auflegen, werden gesund werden.“ (Markus, 16,17f.)
Wer glaubend den Namen ausspricht, wer dies beständig tut, weil das Feuer des Heiligen Geistes in ihm brennt, dessen Herz wird mehr und mehr „zu einem Gefäß des heiligen Namens“. (Jungclaussen in: Das Jesusgebet)
Die Einübung des Herzensgebets ist eine aktive, entschiedene Hinwendung zur Wirklichkeit der Geistkraft. Die Aktivität des Übenden steht immer in Beziehung zum Wirken dieser Kraft, der Heiligen Ruach. Das Sprechen oder Murmeln des Namens ist die Antwort auf ein inneres Angerufen- und Berührtwerden. In der Philokalia findet sich für das Zusammenspiel von Aktivität und Passivität das schöne Bild eines Harfenspielers, der die Saiten selbstvergessen zum Klingen bringt und der Melodie lauscht, die wie von Ferne kommt (vergl. Peng-Keller in: Kontemplation). So wie mit den Resonanzen der Harfe, die die Anregungen des Musikers aufnehmen und in Klang verwandeln, ist es auch mit dem Herz des Menschen: Es ist ein geheimnisvoller Resonanzboden in uns. Unser Herz ist der Ort der Innigkeit, nicht der des Intellekts. Es ist der Ort der Begegnung und der Berufung, uns gegeben als Resonanzboden für die göttliche Wirklichkeit. Dort haben wir Ohren des inneren Hörens (vgl. Schleske in: Der Klang).

Mehr als ein Mantra
Der Name Jesu Christi, der im Herzensgebet angerufen wird, ist mehr als ein Mantra. Er ist uns gegeben als Schlüssel zum kosmischen Christus und zum Mysterium der göttlichen Liebe. Wir werden zuerst berührt und gerufen. Unser Herz geht in Resonanz zum Klang des Rufes, und wir wiederum antworten, indem wir seinen Namen anrufen und dieser sich in Klang verwandelt, der uns durchdringt und erfüllt. Das Herzensgebet, so gelebt, wird zu einem ständigen Beziehungsgeschehen. „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich. Wenn ihr mich erkannt habt, werdet ihr auch meinen Vater erkennen.“ (Johannes 14,6f.)
Wer den Namen Jesu Christi anruft, begibt sich in seine Gegenwart und öffnet sich für die Kraft seines Geistes. Der innere Raum der Stille, in dem wir das Herzensgebet pflegen, weitet sich bei beständigem Üben aus und wird erfahrbar als eine Dimension, die alles menschliche Ermessen übersteigt. „In der Liebe verwurzelt und auf sie gegründet, sollt ihr zusammen mit allen Heiligen dazu fähig sein, die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe zu ermessen und die Liebe Christi zu verstehen, die alle Erkenntnis übersteigt. So werdet ihr mehr und mehr von der ganzen Fülle Gottes erfüllt." (Epheser 3,17–19) Mehr und mehr entdecken wir so das Reich Gottes, den Schatz im Acker, die Quelle in uns. Christus wird der Unfassbare und zugleich der Allgegenwärtige, der in unserer Mitte lebt. Eine Unmittelbarkeit zu Ihm, die keine Form und Gestalt mehr kennt, erfüllt zunehmend unser Bewusstsein und lässt uns unsere Realität wahrnehmen, wie sie ist und darin die allumfassende, formlose Realität dessen schauen, in dem alles geschaffen wurde (vergl. Jalics in: Kontemplative Exerzitien).

Wir sind eingetaucht in die Schöpfung, das Universum, das ewig Seiende, verbunden mit allem, und erfahren zutiefst, dass diese Wirklichkeit unabhängig von Raum und Zeit und irgendeiner Religion oder Weltanschauung existiert, in uns und in jedem Wesen, das uns begegnet.

Ein Ruf nach Erbarmen
In dem Maß, wie wir Christus in unserem Herzen Raum geben, wird sich in uns ein Wandlungsprozess vollziehen. In unserem Herzen findet das innere Hören statt, das die Transformation erst ermöglicht. In wessen Herz sein Name klingt, der ruft zugleich nach seinem Mitgefühl. Als der blinde Bettler Bartimäus hörte, dass Jesus in der Menschenmenge an ihm vorbeizog, rief er laut: "Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir!" (Markus 10,47) Jesus hörte ihn und rief ihn zu sich. Dann stellte er die entscheidende Frage: "Was soll ich dir tun? Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte wieder sehen können. Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dir geholfen. Im gleichen Augenblick konnte er wieder sehen, und er folgte Jesus auf seinem Weg." (Markus 10,51f.) So kommt Bartimäus zum Licht.

Das Licht erfüllt ihn und reinigt sein Innerstes von all den Schatten, die sich dort angesammelt haben. So wird es hell in ihm, er ist erleuchtet. Und er möchte nur noch Eines: mit diesem Jesus gehen, den Spuren seines Weges folgen, eins sein mit ihm.
Im Hören auf den Klang der Stimme Jesu und seinen Ruf hat Bartimäus die Liebe gefunden. Damit hat er auch seine Lebensaufgabe gefunden, seine ganz einmalige Weise, dem Weg zu folgen, den Jesus ihm gezeigt hat. Durch die tiefe Selbsterkenntnis, die Bartimäus mit der Heilung von seiner Blindheit geschenkt wurde, erkennt er den Schöpfergott im Angesicht Jesu und findet den Mut und die Stärke, seine neu gefundene Lebensaufgabe zu verwirklichen. Mit dem Herzensgebet ist es wie mit dem Weg durch das Labyrinth zur Mitte: Je weiter wir auf dem Weg der Klärung und Wandlung zu unserem tiefsten Selbst hin gewachsen sind, umso entschiedener können wir den Weg zurück gehen und uns dem Leben, den Menschen zuwenden. Und dann leben wir unsere Bestimmung, für die wir inkarniert sind. Wir sind frei geworden.

Am Ende mag jeder Augenblick des Lebens zum Herzensgebet werden, wenn uns geschenkt wird, die göttliche Präsenz  in Allem wahrzunehmen. Da haben wir gelernt, die Stimme unseres Herzens zu hören und ernst zu nehmen, indem wir zulassen, dass dort, im Herzen Transformation geschieht, Wandlung durch die Bereitschaft, dem Liebesfluss tatsächlich Raum zu geben. So kommen wir mehr und mehr in Einklang mit dem Kosmos und mit unserer Mutter Erde. Unser Herz ist zum Gefäß und Kanal für die göttliche Liebe geworden.