Was ist Kontemplation? Im weitesten Sinn kann man sagen: Es ist eine Übung und innere Haltung, die Wahrnehmung, den Geist ganz auf den gegenwärtigen Augenblick auszurichten. Wohl gibt es verschiedene Weisen der Ausrichtung und Übung. Achtsamkeit wird seit Jahrtausenden praktiziert, insbesondere in der spirituellen Tradition des Hinduismus und Buddhismus. Der Ursprung der christlichen Kontemplation liegt in der vorchristlichen Antike. Hier gab es zunächst die kosmische Kontemplation (Thales, geb. um 624 v. Chr.) mit dem Blick nach außen (in den Sternenhimmel). Der griechische Philosoph Sokrates (geb. 469 v. Chr.) lenkte dann die kontemplative Ausrichtung nach innen hin zur Selbsterkenntnis.
Kontemplative Ausrichtung hat immer einen Bezug zu einer bestimmten Tradition. In allen Traditionen bzw. Religionen geht es letztlich darum, auf diesem Weg zu tieferer Erkenntnis und Transzendenzerfahrung zu gelangen. Um zu verstehen, was dabei geschieht, muss man diesen Weg selber gehen. Verstehen meint hier nicht rationales Erkennen, sondern die Erfahrung der nicht gegenständlichen Dimension der Wirklichkeit, die Transzendenz.
Im Folgenden klingt die Beziehung zwischen Kontemplation und Achtsamkeit an. Heute wird die Achtsamkeitsbewegung (mindfulness) als Form der Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit einem besonderen Wahrnehmungs- und Bewusstseinszustand verstanden und praktiziert. Im weitesten Sinn wird sie auch als Technik angewendet, um Leiden zu mindern. Ursprünglich ist die Achtsamkeit in der buddhistischen Lehre und deren Meditationspraxis verortet. Achtsamkeit ist eine spirituelle Haltung und Praxis. Wer sich darin übt und die Haltung der Achtsamkeit mit der Zeit in das eigene Leben integriert, wird schließlich die Erfahrung machen, dass er die Wurzeln der eigenen Spiritualität und Religion in einem neuen Licht sehen und begreifen kann.
Es gibt viele Wege, auf denen wir Menschen zum Kern unseres wahren Selbst durchdringen können und uns das Geheimnis aller Wirklichkeit geschenkhaft offenbar werden kann. All diese Wege führen immer auch durch Dunkelheit und Ödnis. Das achtsame Wahrnehmen und das sich der Realität aussetzen, ohne sich abzulenken oder zu flüchten, führt zu einer immer tieferen Selbsterkenntnis. Der Mensch Jesus ist diesen Weg gegangen. Dieser Weg findet sich in allen mystischen Traditionen der Weltreligionen.
Kontemplation und Achtsamkeit
Die Grundlage einer jeden Spiritualität ist das Einüben in eine achtsame Haltung. Gelebte Achtsamkeit führt tiefer hinein in die eigene Spiritualität. Die Übungspraxis der christlichen Kontemplation beginnt mit der natürlichen Kontemplation. Durch achtsames, gesammeltes Wahrnehmen entdeckt der Übende die Wirklichkeit ganz neu, indem er seinen Geist auf das Erleben des gegenwärtigen Augenblicks hin ausrichtet. Wer Achtsamkeit bzw. natürliche Kontemplation einübt, wird sich im Idealfall weniger von dem leistungsorientierten Wunsch, etwas Bestimmtes erreichen zu müssen leiten lassen als vielmehr von seiner inneren Sehnsucht. Der Keim der Achtsamkeit liegt in der Sehnsucht. Simone Weil versteht Sehnsucht als ein Begehren nach tieferer Erkenntnis: "Nur das Begehren kann unser Erkenntnisvermögen führen. Und um etwas zu begehren, müssen Lust und Freude da sein." (Simone Weil in: Das Unglück und die Gottesliebe)
Die kontemplative Haltung
Im biblischen Kontext wurzelt die tragende Haltung der Kontemplation in der Kultur des Sabbats. Am Sabbath kommt der Mensch zur Ruhe. Er wird passiv, indem er sich vertrauensvoll dem Geschehen hingibt. Er vertraut darauf, dass ihm geschenkt wird, was er heute zum Leben braucht.
In der Ruhe des Sabbaths sucht der Mensch in eine Haltung der inneren und äußeren Stille und des Schweigens zu finden. Die kontemplative Haltung ist geprägt von Vertrauen, Sorglosigkeit und Nüchternheit des Geistes. Sie sammelt ihre Aufmerksamkeit auf zweifache Weise auf das Hier und Jetzt. Simon Peng-Keller spricht hier von fokussierter und weiter Aufmerksamkeit: "Fokussierte und weite Aufmerksamkeit sind zwei Weisen, achtsam im Hier und Jetzt zu verweilen. In fokussierter Aufmerksamkeit ergründen wir die Tiefe der Gegenwart, in weiter Aufmerksamkeit erkunden wir ihre Vielschichtigkeit." (Simon Peng-Keller in: Einladung zur Achtsamkeit)
Um mehr und mehr von dieser Grundhaltung geprägt zu werden, bedarf es immer wieder einer bewussten und entschiedenen Ausrichtung unseres Geistes. In diesem Sinn findet die kontemplative Haltung Ausdruck durch ...
... ungeteilte Wahrnehmung
Ungeteilte und unverzweckte Wahrnehmung sammelt uns im Hier und Jetzt. Anders als Denken und Imaginieren, das uns zum augenblicklich durchlebten Leben in Distanz versetzt, bringt uns das achtsame Wahrnehmen in Tuchfühlung mit lebendiger Gegenwart. Es lässt uns in neuen Kontakt mit uns selbst und der uns umgebenden und übersteigenden Wirklichkeit kommen. So werden wir uns des Gegenwärtigen gewahr, das wir sonst eher gar nicht bemerken. Wir stellen uns das Leben nicht vor, sondern werden darin präsent. Wir legen den Schleier unserer Konzepte ab und erkunden die Fülle. Diese Übung braucht festgelegte Zeiträume, in denen jede körperliche und mentale Aktivität ruht und wir mit Wachheit und Interesse wahrnehmen, was im entleerten Raum des Bewusstseins ankommt und sich zeigt. Dazu gehört es, alle Handlungs- und Bewegungsimpulse, Gefühle, Gedanken und Vorstellungen, die während dieser Zeit auftauchen, mit der gleichen Haltung wahrzunehmen. Dadurch entsteht eine heilsame Leere.
... Eingrenzung der Wahrnehmung, um in die Tiefe zu kommen und die Neuheit des Lebens zu entdecken
Wenn wir kontemplieren, begrenzen wir unser Sehfeld und verweilen mit einem ruhigen Blick. So wie ein Naturwissenschaftler etwas unter dem Mikroskop betrachtet, strebt ein Kontemplierender nach Genauigkeit der Wahrnehmung. Dabei unterstützt eine ruhige Körperhaltung die Steigerung der Achtsamkeit und weckt den Sinn für feine Unterschiede und die unbemerkte Fülle des gegenwärtigen Momentes. Wir werden für die fließenden Qualitäten körperlichen Erlebens sensibilisiert. In die Tiefe, zur Quelle kommen wir und das Neue des gegenwärtigen Augenblicks entdecken wir, wenn wir die Erfahrungen, ob angenehm oder unangenehm, nicht festhalten, sondern uns dem Fluss überlassen. Die kontemplative Achtsamkeit, die geduldig wartet, erschließt uns das quellfrische Leben.
... achtsame, geduldige und wohlwollende Wahrnehmung
Im alltäglichen Tun-Modus gehen Wahrnehmung, affektive Wertungen und Handeln ständig ineinander über. Dagegen verweilen wir Im Sein-Modus der Kontemplation ganz bei dem, was sich uns an Wahrnehmungen zeigt und nehmen auch affektive Wertungen und Handlungstendenzen nur wahr, ohne uns mit ihnen zu identifizieren.
Wer sich achtsam und geduldig auf die Wirklichkeit einlässt, den Augenblick mit Interesse und zuweilen auch lustvoll verkostet, dem erschließen sich neue und unerwartete Erkenntnisse und Zusammenhänge. Es bedarf eines zumeist langen, auch mühsamen Überungsweges, um zu lernen, die kontemplative Wahrnehmung des Augenblicks zu "schmecken" und gleich wieder zu lassen, um sich für die Wahrnehmung des nächsten Augenblicks zu öffnen. Die größte Herausforderung ist es, immer unabhängiger von den sich dabei einstellenden Empfindungen und darauf folgenden Reaktionen zu werden. In der kontemplativen Übung zeigen sich natürlicherweise sowohl angenehme als auch unangenehme Empfindungen und Affekte. Wir neigen dazu, gegen die unangenehmen Widerstand aufzubauen; die angenehmen halten wir gerne fest. Dadurch hindern wir uns selbst daran, offen und empfänglich für das sein zu können, was uns von Augenblick zu Augenblick entgegenkommt. Was immer in der achtsamen Wahrnehmung erlebt wird, es darf so sein wie es ist.
Der innere Drang, das Erlebte ändern zu wollen, blockiert in uns die Möglichkeit, auf dem kontemplativen Weg zu wachsen und zur innersten Quelle des Lebens (dem Schatz im Acker) zu finden. Das, was ist, will mit wohlwollender Akzeptanz angenommen werden, ebenso die Erkenntnis, dass diese Akteptanz und Annahme oft schwer fällt und durch Fortschritt und Rückschritt mühsam erlernt werden muss.
Quelle: Simon Peng-Keller in Kontemplation - Einübung in ein achtsames Leben
So ist der kontemplative Weg vergleichbar mit dem Labyrinthweg. Am Anfang glaubt man, schon bald in der Mitte, bei der Quelle angekommen zu sein. Und wieder führt der Weg nach außen, dann nach innen usw. bis am Ende das Ziel erreicht ist.