Labyrinthwege
„Das Labyrinth ist zugleich der Kosmos, die Welt,
das Leben des Einzelnen, der Tempel, die Stadt,
der Mensch, der Schoß, die Windungen des Hirns, das Bewusstsein,
das Herz, die Pilgerfahrt, die Reise und der Weg.“
Hubertus Halbfas
Der lange Aufenthalt in der Kathedrale Notre-Dame in Chartres im Sommer 2017 war für mich eine tiefe Erfahrung, insbesondere die Begegnung mit dem Labyrinth. Es war tatsächlich nicht nur ein Eintreten in den Innenraum der Kathedrale. Das Begehen des Labyrinths war ein Weg in mein Innerstes. Später habe ich das Buch von Gernot Candolini erstanden mit dem Titel: "Labyrinth - Wege der Erkenntnis und der Liebe". In der Einleitung schreibt er: "Dem Pfad des Labyrinthes zu folgen, heißt: aufbrechen und loslassen, Wendungen annehmen, die Erkenntnisse der Mitte gewinnen und den Weg heraus zu entdecken." Hier zeigt sich die Verbindung zum Klang und zur Kontemplation. Alle drei erschließen sich nur, wenn wir uns darauf einlassen. Dann sind wir gegenwärtig im Hier und Jetzt und können wahrnehmen, was sich uns zeigt. Wir nehmen es wahr, so wie es ist, ohne Wertung und Einordnung. Und dadurch erschließt sich uns eine immer neue Lebendigkeit. Jeder Augenblick ist frisch und neu.
Das Labyrinth ist ein Symbol für die Suche des Menschen nach einem Ziel. Tiefergründig betrachtet versinnbildlicht es die Suche nach der Mitte. Wer ins Labyrinth eintritt und sich auf den Weg macht, weiß, dass er sich auf Umwege begibt und zeitweise um sich selbst kreist. Je länger der Weg dauert, umso mehr sehnt er sich nach der Mitte.
Ein Labyrinth führt immer zur Mitte. Es ist nicht zu verwechseln mit einem Irrgarten. Hier führen vom anfänglichen Weg viele Wege ab, die alle in Sackgassen enden. Nur ein einziger Weg führt zum Ziel. Wer sich hier auf den Weg zum Ziel macht, wird sich immer wieder verirren.
Der Weg zur Mitte
Gernot Candolini hat sich so intensiv mit der Geschichte des Labyrinths beschäftigt, dass er schließlich begann, selbst Labyrinthe zu bauen und dies zu seinem Beruf zu machen. In seinem Buch beschreibt er folgende Begebenheit. Nachdem er ein Labyrinth für einen Park entworfen und gestaltet hatte und dies einmal Freunden zeigte, kam eine ältere Dame auf ihn zu und sagte: "Sind Sie der, der das gebaut hat?" Candolini bejahte dies. Da nahm die Dame seine Hand und sagte: "Ich weiß nicht, was ein Labyrinth ist, aber ich bin es durchgegangen und habe eine Entscheidung getroffen, die ich seit sechs Jahren treffen will. Jetzt habe ich endlich Klarheit gefunden."
Immer wieder fanden und finden Menschen zu dieser Klarheit und Entschiedenheit, wenn sie sich auf den Weg zur Mitte machen. Die alten Labyrinthe haben im Gegensatz zu den Irrgärten immer nur einen Weg, der über viele Wendungen schließlich in die Mitte führt - ein Symbol für das menschliche Leben. Der Weg ist mühsam. Da ist man manchmal der Mitte ganz nahe und glaubt, das Ziel schon erreicht zu haben. Geht man weiter, findet man sich plötzlich wieder außen, weit weg von der Mitte. Die Versuchung ist groß, stehen zu bleiben oder vorschnell zurückzugehen. Wir geraten in eine Krise, stehen vor der Frage, was wir eigentlich wirklich wollen. Worum geht es? "Krisen wollen uns helfen, der Mensch zu werden, der wir im Innersten sind und sein wollen,"so drückt es Candolini aus. Damit spricht er die Tatsache an, dass jeder Mensch eine Lebensaufgabe hat. Es ist die Aufgabe, die eigenen, einmaligen Begabungen zu erkennen und in das Leben einzubringen. Wer diese Lebensaufgabe findet und verwirklichen kann, wird ein zutiefst freier und zufriedener Mensch sein. Dazu müssen wir auf dem Weg zur Mitte bleiben. Erst wenn wir dort angekommen sind, findet eine grundlegende Klärung statt, eine tiefe Selbsterkenntnis. Wie in einem Spiegel sieht der Mensch in der Mitte sein eigenes Gesicht, die eigene Wahrheit, die das Licht und den Schatten seiner selbst, seine Stärken und Schwächen offenbart.
Der Weg zu den Menschen
Erst wenn wir unser So-Sein wirklich wahrhaben wollen und bereit sind, uns mit uns selbst und der Welt auseinanderzusetzen, tut sich ein innerer Raum auf, der nach außen hin Weite schafft. "Es ist der Raum, in dem ich lernen kann, zu mir selbst zu stehen. Denn die Treue zu sich selbst ist der Anfang der Liebe." (Candolini) Diese Erfahrung findet in der Mitte des Labyrinths statt, nicht nur einmalig, sondern jeweils neu, ein ganzes Leben lang. Immer wieder zur Mitte zu gehen bringt je ein Stück mehr Selbsterkenntnis. Sich dieser auszusetzen und damit auseinanderzusetzen schafft Klarheit über die einmalige, ureigenste Begabung. Und dann ist es so, als ob ein Ruf von außen kommt, den Rückweg anzutreten. Der Mensch ist gerufen im Sinn von Berufung, seine Begabung in das Leben einzubringen und zu entfalten. Diese Berufung ist oft unscheinbar und muss keinen unmittelbaren Bezug zum konkret ausgeübten Beruf haben. Es ist die persönliche Beteiligung am andauernden Schöpfungsprozess, durch die das Ureigenste zum Klingen kommt. Hier ist der Bezug zu meiner Seite Klang: In der Mitte finden wir das, was durch uns wirksam, sichtbar, hörbar werden soll, was durch unser Leben zum Klingen kommt. Vom Symbol des Labyrinths her gesehen geht es also nicht darum, in der Mitte zu bleiben. Manchmal müssen wir länger dort verweilen, aber sie ist nicht das letzte Ziel. Aus der Selbsterkenntnis heraus und der Treue zu sich selbst folgt der Weg zurück. Es ist der Weg zu den Menschen, zum Verwirklichen der eigenen Lebensaufgabe in Raum und Zeit.
Noch einmal Candolini: "Der Weg aus dem Labyrinth heraus ist gleich lang wie der Weg nach innen. Die Zuwendung zu den Menschen, die wir lieben, verdient die gleiche Zeit, die gleiche Mühe, die gleiche Geduld wie unser Engagement für das Ziel der Mitte. Alles, was in Liebe getan wird, bleibt ewig; alles andere vergeht."
Spirituelle Bedeutung im Christentum
Die Christen haben das Ursymbol des Labyrinths sehr früh aufgenommen. In der Reparatusbasilika in El Asnam (Algerien), einer der ältesten erhaltenen Kathedralen, wurde im Jahr 324 ein Bodenlabyrinth eingelassen. Ab dem 12. Jahrhundert entstanden immer mehr von diesen Labyrinthen in christlichen Kirchen, hauptsächlich in Nordfrankreich und Italien. Sie liegen immer kurz nach dem Haupteingang der Kathedralen. Im Mittelalter wurden sie sowohl als Einkehrweg und Gebetsort genutzt als auch zum Tanzen. Später verloren sie an Bedeutung und wurden aus den meisten Kirchen entfernt. Heute kann man außer in der Kathedrale Notre-Dame in Chartres auch in den Kathedralen in Amiens und Siena enthaltene Fußbodenlabyrinthe begehen.
In der christlichen Spriritualität hat das Labyrinth seit einiger Zeit wieder an Bedeutung gewonnen. Menschen, die sich auf den Weg zur Mitte und zurück einlassen, machen die unterschiedlichsten Erfahrungen, immer wieder auch Transzendenzerfahrungen. Selbst Menschen, die bisher keinen Zugang zu der Dimension eines Schöpfers hatten, berichten manchmal, dass sie im Gehen plötzlich eine Ahnung oder gar tiefe Gewissheit erfahren haben, dass Einer mitgeht auf dem Weg. Zum ersten Mal wurde ihnen bewusst, dass in ihrem Innersten eine Sehnsucht nach Gott lebt, die durch den Labyrinthweg geweckt wurde.
In der Mitte Chartres-Labyrinths befand sich früher eine Kupferplatte. Zur Zeit der Napoleonischen Kriege wurde diese entfernt und eingeschmolzen. Die Metallnägel, mit denen die Platte befestigt war, kann man heute noch sehen (Foto rechts).
Auf der Platte waren Theseus und der Minotaurus dargestellt. Neben den beiden stand Ariadne und hielt den Faden, mit dem sie Theseus vor dem Minotaurus gerettet hat. Der Mythos über den Helden Theseus wurde im frühen Christentum als Symbol für die Rettung der Menschheit gesehen; Theseus als Sinnbild für Christus, der den Menschen durch den Faden der Liebe aus dem gewundenen, verwirrenden Lebenslabyrinth hilft und zu einem Leben in Freiheit führt. "Zur Freiheit hat uns Christus befreit." (Galater 5,1)
Ein Labyrinth zu gehen, sich wirklich auf dieses Gehen einzulassen, ist achtsames Gehen, ist wahrnehmen, was in mir geschieht, was sich auftut an Empfindungen, Gedanken, Einsichten ... Dieses achtsame Gehen, das wir in der Kontemplation zwischen den Zeiten des Sitzens in der Stille einüben, bestimmt auch den Weg durch das Labyrinth. Es entschleunigt und bringt jenseits des Denkens zu Bewusstsein, dass es neben bzw. in der Materie das Mystische gibt. Die Sehnsucht wird geweckt und genährt, diese allumfassende Wirklichkeit zu erkunden und in der eigenen Tiefe zu entdecken. "Gott strahlt auf dem Gipfel der Materie, deren Ströme ihm den Geist brachten." (Pierre Teilhard de Chardin) Da sind wir wieder beim Schatz im Acker, der Quelle des Lebens, die im Innersten des Menschen verborgen ist. Auf der Seite Klang wurde bereits erwähnt, dass die Gegenwart wie der Acker mit dem verborgenen Schatz ist. Dies bezieht sich auf das Gleichnis Jesu vom Schatz und von der Perle. (Matthäus 13,44-46) Die zentrale und wesentliche Botschaft Jesu war die vom Reich Gottes, das nicht erst noch kommt, sondern immer schon mitten unter uns ist, eben in der Gegenwart und nur da. Das Feuer, das Jesus in den Herzen der Menschen entfacht hat, wird heute noch von denen weiter gegeben, die diesen Weg gehen. "Der Fromme von Morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein." (Karl Rahner)