Klang und Kontemplation
Christine Ockenfels

Kraftort Chartres

© Christine Ockenfels

Im Sommer 2017 verbrachte ich zum ersten Mal mehrere Stunden in dieser Kathedrale, staunend und fasziniert. Es war eine unbeschreibliche Erfahrung. Im Sommer 2018 waren wir wieder dort. Einen Freitag lang in der Kathedrale weilen und Zeit haben, das Labyrinth zu begehen, das in den Sommermonaten jeden Freitag freigeräumt wird. Der Abschied fiel nicht leicht, doch der Entschluss war gefasst: Hier muss ich immer wieder hin. Die Resonanz in mir mit diesem Raum Kathedrale war unglaublich stark. Im November 2019 waren wir schließlich mit Helge Burggrabe und Christian Bollmann eine Woche lang in Chartres. "Es gibt nur wenige vergleichbare Orte, an denen sich Wissen und Kunst, Weisheit und Spiritualität so verdichten. Bei meinen Chartres Reisen versuche ich, dieses inspirierende Gesamtkunstwerk für uns heutige Menschen erlebbar zu machen." (burggrabe.de) Dieser Versuch ist ihm gelungen. Chartres ist in mir präsent und lebendig geworden und geblieben.

Wer einmal dort war, in dieser Stadt, verbindet mit dem Namen Chartres die Kathedrale. Für mich ist Chartres die Kathedrale. Schon der Weg nach Chartres hin zur Kathedrale ist eine spirituelle Entdeckungsreise. Und dann das Eintreten in die Kathedrale und das Sein in diesem heiligen Raum: Es ist das Eintreten in eine Ruhe, in eine Tiefe, in eine zeitlose Ewigkeit, die erfüllt ist vom stillen Klang. Wenn ich nur Chartres denke, höre, dann schwingt dieser Klang in mir.
Tilman Evers beschreibt es so: "Die Kathedrale ist alles zugleich - ein Buch der Geschichte von der Erschaffung der Welt bis zum neuen Jerusalem, ein Kompendium christlichen Glaubens und Lebens, ein Nachhall der Philosophie seit der Antike, eine Verortung in Kosmos und Natur, eine Würdigung der menschlichen Handwerke und Tätigkeiten, und vieles andere mehr. In keiner anderen der großen Kathedralen finden sich Weisheit und Wissen, Gott und Welt in ähnlichem Gleichklang. Die Begegnung zwischen Himmel und Erde, die jede Kathdrale versinnbildlicht - sie ist in Chartres nicht nur Symbol, sondern Ereignis."
Quelle: Evers in Chartres, Lauschen mit der Seele, S. 37

Wie gut, dass es Menschen wie Tilman Evers gibt, die eine Gabe haben, das Unsagbare doch irgendwie zu benennen. Ja, so erlebe ich die Kathedrale. Eine Woche sozusagen in ihr gelebt zu haben, ist das Größte auf meinem bisherigen spirituellen Weg, auf der langen Reise nach Innen und zurück nach Außen.
Und für diese Erfahrung finden sich wirklich keine Worte. Oder doch? Ein minimalistischer Versuch:
Im Inneren der Kathedrale verbindet sich für mich der Klang, die Kontemplation, das Labyrinth. Ja, hier betreten wir den Boden des Unsagbaren. Hineinlauschen in den Innenraum - sich öffnen für eine andere Weise der Begegnung mit der Kathedrale, mit den Menschen in ihr, mit allem, was mich dort berührt, letztlich mit mir selbst und mit dem Geist, der dies geschaffen hat und alles durchdringt und umhüllt.

© Christine Ockenfels

Besonders tiefgründig ist das Erleben von Licht in diesem Raum. Die Kathedrale ist Licht. Die Fenster von Chartres sind das Juwel, das Licht in allen seinen Facetten und Entfaltungen hineinlässt. Weilend im Innersten der Kathedrale weiß ich mich geborgen in einem Raum, der sich durch die wunderschönen Fenster nach außen hin öffnet. Die Transparenz der Fenster lässt mich meine eigene Durchlässigkeit für das Wirken des Geistes spüren, der reines Licht ist. Licht, das Energie bewegt und in Fluss bringt. Energie Liebe, die alles zu wandeln vermag.
Und jedesmal verlasse ich die Kathedrale anders als ich sie betreten habe. Die Fenster haben mir die Weite des Universums eröffnet, mich hineingenommen in die Begegnung mit dem grenzüberschreitenden zeitenlosen Sein, in das Licht, das alles gut macht.
"Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott. Dieses war im Anfang bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden und ohne es wurde nichts, was geworden ist. In ihm war Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfasst." (Johannes 1,1-5)
Was im Prolog des Johannesevangeliums anklingt, ist in der Gesamtkomposition der Kathedrale von Chartres lebendig geworden. Sie birgt das Mysterium in sich in einer unglaublichen Klarheit. Die Weisheit der Schöpfung, des ganzen Universums kommt hier zum Ausdruck, wird veranschaulicht, spürbar, sichtbar, hörbar. Und was ist das Wort, das im Anfang war? Das Wort ist Klang, der alles durchdringt, durch den alles immer in Bewegung, im Fluss, in Wandlung ist. Die Kathedrale ist eine Offenbarung dieser Energie Liebe.

In ihrer Architektur ist die Kathedrale ein Abbild des menschlichen Körpers. In den langen Zeiten des Raumdurchschreitens und Verweilens findet der Mensch in einen Dialog mit ihr. Nicht nur der Weg durch das Labyrinth kann zu einem Erkenntnis- und Heilungsweg werden. Auch der Weg durch die Kathedrale vermag mich in Beziehung zu mir selbst und zum großen Ganzen bringen, wenn ich mich darauf einlasse und wahrnehme, was in tieferen Schichten meines Seins geschieht. Ein Resonanzgeschehen. Bei einem kurzweiligen Aufenthalt in und um die Kathedrale herum kann sich eine Ahnung davon auftun und die Sehnsucht geweckt werden, wieder zu kommen. So komme ich über Jahre hinweg immer wieder und bleibe immer länger. Ja, die längste Reise ist die Reise nach innen. Vermutlich ist dies auch die schönste und nachhaltigste Reise. Chartres ist ein Ort von sicher unzähligen Orten auf unserer Erde, an dem man auf dieser Reise tiefer und weiter kommen kann. Sinn und Ziel der Reise verdichtet sich in meinem Erleben auf einmalige Weise an diesem Ort.

Helge Burggrabe lädt zu seinen Reisen nach Chartres mit den Worten ein: "Wer die Kathedrale von Chartres betritt, erlebt einen Zusammenklang, eine vielstimmige Symphonie aus Stein, Glas, Raum, Figuren, Geschichten oder auch alten Menschheitssymbolen wie dem Labyrinth. Aus dem Staunen über diese kunstvolle Vernetzung so unterschiedlicher Elemente entsteht die große Frage nach dem Bauplan: Nach welcher Partitur wird hier gespielt? Es ist eine vielschichtige Partitur, die alle Einzelheiten verbindet, und zugleich offen ist, von uns heutigen Menschen weitergeschrieben und gespielt zu werden. Die Kathedrale von Chartres ist ein Gesamtkunstwerk, das den ganzen Menschen ansprechen kann, ja geradezu herausfordert."  Ja, so ist es. Für mich ist die Kathedrale der Raum, in dem die mystischen Wirklichkeiten Klang, Kontemplation und Labyrinth erfahrbar werden und zu einer Einheit verschmelzen, die uns mit allen Sinnen eintauchen lässt in den Urklang. Ein Erleben von All-Einheit und Einklang.

© Christine Ockenfels

Das Faszinierende in der Kathedrale ist, dass sich hier Wissenschaft, Kunst und Religion durchdringen und gegenseitig befruchten und uns heutigen Menschen Weisheiten erschließt, die die Urchristen begriffen und gelebt haben. So ist die Kathedrale ein Schlüssel zu dieser verborgenen Weisheit und mag auch der Schlüssel zum ursprünglichen Wesen des Christentums sein, dessen Weisheit viele Menschen heute nicht mehr erkennen können, weil ihnen der Erfahrungsraum nicht eröffnet wird. Christsein als ein Weg unter verschiedenen Wegen, unsere Zeit auf dieser Erde als Aufgabe und Herausforderung zu begreifen und zu leben. Die Kathedrale als Raum, die dem Menschen seine ureigenste Berufung ins Bewusstsein bringen möchte.
So kann man durch die Kathedrale wandeln mit einer Sehnsucht, die
Etty Hillesum in diese Worte gebracht hat:
"Ich trage eine Melodie in mir herum,
die manchmal danach verlangt,
dass ich sie in meine eigenen Worte und Bilder kleide.
Die Urmelodie ist schon da.
Sie muss aber noch in ein Kleid verwandelt werden."

© Christine Ockenfels

Eine von vielen meiner Erfahrungen: Bei Nacht im Labyrinth dem Klang der Kathedrale lauschen, den Weg gehen in Achtsamkeit und Kontemplation. Schattenwege, Wendungen, Hindernisse, Zweifel, Unsicherheit, Halt, Erkenntnis, Suchen, Fragen, Warten, Begegnungen, Gemeinschaft, Einsamkeit, Dunkelheit, Licht, Klärung, Einssein mit Allen und Allem .....
Ein langer Weg der Wandlung. Und du kommst heraus im Herzstück der Kathedrale, der Vierung, und hast das Alte hinter dir gelassen, dein Herz ist weit geworden für das Neue, das werden will.